Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine?
Verhandlungen zur Konfliktlösung sind eine gute Sache. Dabei sollte aber nicht vergessen werden, dass ihr Erfolg nicht von unserem moralischen Empfinden abhängt, sondern von bestimmten Voraussetzungen, die nicht immer gegeben sind.
Gegenwärtig hört und liest man immer wieder, dass „alle Kriege letztlich in Verhandlungen beendet werden“. Dann macht es natürlich Sinn, diese Verhandlungen möglichst bald zu führen, und nicht erst nach weiteren, dramatischen Zerstörungen und großen Opfern. Den letzten Punkt dürfen wir bedauerlicher Weise schnell abhaken: Er ist offensichtlich falsch. Der Erste und der Zweite Weltkrieg, der Irakkrieg, die Kriege in Syrien oder Afghanistan und viele andere wurden nicht durch Verhandlungen beendet, sondern durch militärische Siege oder Niederlagen. Das ist nicht schön, sollte aber nicht verdrängt werden. In anderen Fällen wurden zwar Kriege formal durch Verhandlungen beendet – aber erst, nachdem sie entweder vorher militärisch entschieden, oder als beide Seiten zu erschöpft waren, um die Kämpfe fortzusetzen. Der Krieg in Bosnien ist ein Beispiel.
Erfolgreiche Verhandlungen hängen von Voraussetzungen ab. Verhandlungen können, unter bestimmten Bedingungen, zum Frieden führen; aber sie können auch Teil und Instrument des Krieges sein, etwa zum Zeitgewinn oder als Teil der psychologischen Kriegführung. Als die USA in Afghanistan mit den Taliban verhandelten, ging es nicht um Frieden, sondern um einen gesichtswahrenden Truppenrückzug, nachdem die USA den Krieg politisch verloren hatten. Wäre die afghanische Regierung nicht militärisch zusammengebrochen, hätte Washington den Krieg ohne eigene Truppen noch jahrelang weitergeführt.
Erfolgreiche Friedensverhandlungen setzen zumindest dreierlei voraus: Einmal den ernsthaften Willen beider Kriegsparteien, zu einer solchen Verhandlungslösung zu kommen; zweitens die Möglichkeit, die Interessen beider Seiten miteinander zu vereinbaren. Man könnte, drittens, noch ergänzen, dass beide Seiten sich zumindest so weit vertrauen müssen, dass sie erwarten, die Gegenseite halte sich an eventuelle Vereinbarungen.
Alle drei Voraussetzungen sind im Ukrainekrieg heute (noch) nicht gegeben. Russland hat den Regime Change in Kiew (eine sogenannte „Entnazifizierung“) und die Entwaffnung („Demilitarisierung“) als Kriegsziele genannt, und Vladimir Putin und seine Sprachrohre haben immer wieder erklärt, dass die Ukraine „eigentlich“ gar nicht existieren dürfe und zu Russland gehöre. Darüber gibt es prinzipiell nichts zu verhandeln, da eine solche Zerschlagung der Ukraine nur durch deren Kapitulation möglich wäre. Sollte der Krieg aus russischer Sicht dauerhaft ins Stocken geraten oder scheitern, würde Russland vermutlich ein Kompromissangebot vorlegen: Nämlich die 2014 annektierte Krim, den Donbass und alle seit Februar 2022 eroberten Gebiete zu behalten, und (vermutlich) zusätzlich die Neutralität der Ukraine zu verlangen. Eine solche „Verhandlungslösung“ wäre aber nur möglich, wenn Russland zuvor die Ukraine in eine militärisch so verzweifelte Situation gebracht hätte, dass ihr keine andere Wahl bliebe. Letztlich würde die völkerrechtswidrige Aggression Moskaus so durch beträchtlich Gebietsgewinn belohnt – ob man dies als „Verhandlungslösung“ oder erzwungenen Landraub bezeichnen wollte, wäre zumindest zu diskutieren. Gegenwärtig aber deutet absolut nichts darauf hin, dass Russland seinen Eroberungskrieg einzustellen bereit wäre, um sich der Diplomatie anzuvertrauen. Bereits die hektischen diplomatischen Versuche Frankreichs, Deutschlands und der USA vor Beginn des Krieges, diesen durch Gespräche und Verhandlungen zu vermeiden, waren bekanntlich erfolglos – und gegenwärtig betrachtet Russland den Krieg offensichtlich noch als erfolgversprechend, um seine Aggressionsziele entweder direkt zu erreichen, oder die Ukraine so ausbluten zu lassen, dass sie anschließend zur Kapitulation oder Aufgabe großer Landesteile bereit ist.
Umgekehrt ist auch die Ukraine nicht an Verhandlungen interessiert, die ihre Selbstaufgabe oder den Verlust großer Territorien bedeuteten. Ihr ist es gelungen, den ursprünglich geplanten Blitzkrieg und die handstreichartige Eroberung Kiews zum Scheitern zu bringen, und das russische Militär an einigen Stellen zurückzudrängen – nun, mit der politischen, finanziellen und militärischen Unterstützung der EU- und NATO-Mitglieder im Rücken fühlt man sich in einer gestärkten Position. Nur ein langer Abnutzungskrieg gegen die zahlenmäßig weit überlegenen russischen Truppen könnte dies ändern, aber gegenwärtig sieht die ukrainische Regierung keinen Grund zu verhandeln – solange Moskau seine Truppen nicht abzieht.
Damit fehlt der ernsthafte Willen beider Kriegsparteien zu einem Verhandlungsfrieden. Der Hauptgrund liegt offensichtlich darin, dass sich die Interessen beider Seiten und ihre Kriegsziele gegenwärtig noch ausschließen. Wenn eine Seite auf dem Abzug der Aggressionskräfte hinter die russischen Grenzen besteht, also auf der Aufgabe sämtlicher bisherigen Kriegsgewinne, und die Gegenseite auf der faktischen Kapitulation des Aggressionsopfers – worin sollten dann Kompromisslinien bestehen, die in Verhandlungen genutzt werden könnten? Dem Aggressor einen Teil seiner Beute zu belassen und dies international zu akzeptieren? Dies würde nur in akuter Existenznot der Ukraine geschehen, und es würde den Aggressor eine Prämie für seine Aggression präsentieren. Zu Stabilität und dauerhaftem Frieden führt so etwas selten: Das Sudetenland dem damaligen Aggressor zu überlassen hat den Angriff auf Polen (und so viele andere Länder) nicht verhindert. Erst wenn beide Länder zu erschöpft sind, um den Krieg wirksam weiterführen zu können, würde ein solcher Zwangskompromiss zu einer realistischen Möglichkeit.
Drittens fehlt auch die Geschäftsgrundlage des wechselseitigen Vertrauens. Gegenwärtig ist es schwer vorstellbar, Zusagen Putins zu vertrauen, mögen diese schriftlich, mündlich, gesungen oder gereimt erfolgen. Er hat in den letzten Monaten und Jahren die Ukraine nicht nur mit der Vernichtung bedroht, sondern immer wieder so bizarr gelogen, dass selbst Donald Trump als Tugendbold erscheinen könnte. Ein angeblicher „Völkermord“ an Russen im Donbass, der vorgebliche Nazi-Charakter der ukrainischen Regierung, die Lüge, dass das russische Militär „niemals zivile Ziele angreift“ und dass die zivilen Opfer in der Ukraine (einschließlich der 400 Massakrierten in Butscha) von der Ukraine selbst zu verantworten seien, oder die erwähnte Aussage kurz vor dem Einmarsch, dass man über „keine Pläne“ für einen solchen verfüge und „nicht einmal daran denke“ die Ukraine anzugreifen – die Liste könnte fast beliebig verlängert werden. Die Dreistigkeit dieser Lügengalerie ist fast beispiellos – wie könnte irgendjemand, und wie könnte insbesondere die Ukraine genug Vertrauen in die Verlässlichkeit Putin’scher Zusagen haben, um ihre Zukunft davon abhängig zu machen? Das wäre doch etwas zu viel verlangt.
Damit fehlen Verhandlungen zu Beendigung des Krieges gegenwärtig alle Voraussetzungen. Es wäre schön, wenn der Krieg auf eine so zivilisierte Art beendet werden könnte. Es ist auch nicht so, als hätten Macron und Scholz es nicht bis zum Überdruss versucht, diplomatische Möglichkeiten einer Verhinderung und dann einer Beendigung des Krieges auszuloten. Wir dürfen alle von Verhandlungen träumen – aber es wäre fahrlässig zu glauben, dass sie in der gegenwärtigen Kriegsphase etwas Anderes sein könnten als ein taktisches Mittel der Kriegspropaganda.